Zaire (heute Kongo) in der Regenzeit – Peter und Ulla Wulf starten mit ihrem alten Bundeswehr-MAN, einem zum Wohnmobil ausgebauten 13 Tonnen schweren Lastwagen, im Jahre 1985 in Hamburg. Ihr Ziel ist das Kap der Guten Hoffnung. Ihr Begleiter: der Kater Niger, schnurrig, mutig und verfressen.
Ursula Wulf – Einige Wochen und viele Buchseiten später. Inzwischen wurden Kamerun und Zentralafrika durchquert: Durch die Kapsiki-Provinz im Norden Kameruns führte der Weg zunächst nach Kribi, einem Paradies am Atlantischen Ozean. Dort verbrachten wir zusammen mit anderen Globetrottern einige unbeschwerte Wochen. Doch langsam wurde es Zeit für die West-Ost-Durchquerung des Kontinents, bevor die Urwaldpisten durch die Regenzeit so aufweichen, dass man sie kaum noch benutzen kann.
Irgendwo im Osten Kameruns wurden wir von Simone und Karl, lieben alten Bekannten, eingeholt. Wir beschlossen, die Fahrt durch Zentralafrika und Zaire gemeinsam zu wagen. Von der Stadt Bangui aus gab es eine Fähre über den Oubangui-Fluss nach Zaire.
Zaire in der Regenzeit
Eine große Fähre bringt uns über den breiten Fluss nach Zaire. Dort lässt der Steuermann die Fähre einfach auf Grund laufen. Sie steckt nun mit einer Seite in einer Sandbank fest, die weit in den Fluss hineinragt. Von einer Art “Anlegesteg” oder einer Uferbefestigung ist weit und breit nichts zu sehen. Unsere Fahrzeuge mahlen sich langsam durch den tiefen Sand am Flussufer, ohne steckenzubleiben. Mehrmals müssen wir um große Löcher herumfahren, die die Eigentümer von weniger geländegängigen Autos gegraben haben.
Im Einreisebüro von Zongo werden wieder ellenlange Fragebögen ausgefüllt, auch Devisendeklaration wird verlangt. Unglücklicherweise geben Peter und ich die Landeswährung, die wir dabeihaben, mit an, weil wir uns nichts Böses denken. Oh, das gibt einen Aufstand! Die Einfuhr von “Zaire” nach Zaire ist nämlich streng verboten. Da nun niemand weiß, wie mit uns Übeltätern zu verfahren ist, müssen wir mit einem Angestellten zur Wohnung des Chefs laufen. Der weiß aber auch nicht und möchte die prekäre Lage lieber dem Generalsekretär unterbreiten. Da dieser jedoch gerade unterwegs ist, müssen wir bei der “Immigration”, dem Einreisebüro, warten.
Wir kommen dazu, wie einer der Beamten den Toyota gründlich durchsucht. Karl muss alle möglichen Kisten und Fächer öffnen und zeigen, was darin ist. Simone ist von Beruf Krankenschwester und hat einen Kasten mit sterilen Geburtshilfe-Instrumenten mit, den sie irgendwo auf einer Mission verschenken will. Dieser Kasten darf keinesfalls geöffnet werden, um die Sterilität zu gewährleisten. Bei allen bisherigen Grenzen hatten die beiden auch keine Schwierigkeiten. Jetzt aber sind wir in Zaire. “Öffnen Sie den Kasten“, verlangt der Beamte auf Französisch. Karl versteht zwar kein Französisch, aber die Forderung des Beamten ist eindeutig. Er antwortet gestikulierend und kopfschüttelnd auf Deutsch “nee, det is steril.” “Aufmachen“, beharrt der Zöllner. “Nee, Mann“, ereifert Karl sich, sieht den Zöllner eindringlich an, wiederholt, indem er mit dem Zeigefinger auf den Kasten tippt: “det is STERIL!” “Sofort aufmachen“, spricht die Amtsperson. Karl, mit hochrotem Kopf, reißt wutentbrannt den Kasten auf: “Hier! Nu is et nich mehr steril, du Affenkind!” Peter und ich denken intensiv an trocken Schwarzbrot, damit wir uns nicht vor Lachen in die Hose machen. Es hilft. Wir gucken nur recht freundlich. Der Zöllner bleibt friedlich, denn glücklicherweise hat er nichts verstanden.
Nach einiger Zeit erscheint der Generalsekretär, lässt sich unseren Fall schildern und weiß auch nichts. Trotz aller Ausreden, die ich zahlreich vorbringe, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Nacht vor der Polizeistation mitten in Zongo zu verbringen und den morgigen Tag abzuwarten. Na prima, da freuen wir uns aber. Zum Glück ist wenigstens das Klima angenehmer als in Bangui auf der anderen Flussseite, denn hier weht eine leichte Brise und es ist nicht ganz so heiß.
Ein Trompetensolo weckt uns am frühen Morgen. Krischan kann es nicht sein, aber wer dann? Draußen stehen alle Polizisten Zongos stocksteif in einer Reihe. Einer von ihnen entlockt einer verbeulten Trompete Töne, die an einen Elefanten mit Magengeschwüren denken lassen. Ein anderer zieht feierlich die Zairer Fahne hoch. Wir benehmen uns anständig und lachen nur so leise, dass man es draußen nicht hört. Karl und Simone sitzen schon draußen und machen Gesichter, die an einen Elefanten…
Wir frühstücken zusammen mit Karl und Simone, umringt von höflich interessierten Polizisten, und sind gespannt, wie lange wir wohl heute auf eine Entscheidung warten müssen. Doch kaum haben wir den ersten Schluck Kaffee getrunken, kommt schon der Generalsekretär mit unserem Geld und den Pässen in der Hand. Wir möchten doch bitte mitkommen in sein Büro. Dort entschuldigt er sich vielmals, dass er uns solche Umstände gemacht hat, und wir könnten das Geld selbstverständlich behalten. Na, da sind wir aber erstaunt! Monsieur Efadji gibt uns Geld und Pässe zurück und wünscht uns eine gute Fahrt. Wir bedanken uns und sehen zu, dass wir davonkommen. Frühstücken können wir immer noch.
Der Urwald hat uns wieder. Die Piste ist recht gut zu befahren. Tausende von bunten Schmetterlingen schwirren über dem Weg. Wir fahren durch grüne, weiße, gelbe Wolken der schönen Tiere. Ab und zu verirrt sich mal einer in unsere offene Fahrerkabine, stößt sich die Nase an der Scheibe und fliegt wieder heraus. Oft führt die Piste durch Dörfer. Sehr langgezogene Dörfer. Zaire ist ein kinderreiches Land. Das erste Kind im Dorf sieht uns, schreit ohrenbetäubend: “Touristiiiiii!” Dieser Ruf wird von allen Kindern im ganzen Dorf aufgenommen; während mehrerer hundert Meter gellt es uns in den Ohren, in jedem Dorf aufs Neue: “TOURISTIIIIIIIIIII!” Wirklich herzig, die Kleinen.
Der Wald weicht zurück und macht einer traumhaft schönen Landschaft Platz: sanft ansteigende, kleine Hügel, bewachsen mit silbrig blühendem Gras, erstrecken sich bis fast zum Horizont, wo groß und dunkel wieder der dichte Urwald beginnt. Vereinzelt stehen hohe, schlanke Palmen zwischen den Hügeln.
Eine völlig einsame Gegend
Wir übernachten weit entfernt von irgendwelchen Dörfern mitten in der schönen Hügellandschaft. Der Sonnenuntergang ist ein Erlebnis; alles ist still und friedlich, kein Mensch in der Nähe.
Starker Wind kommt auf, ein Gewitter zieht in großem Bogen um uns herum. Wir gehen schlafen; der Toyota steht dicht neben dem MAN.
Peter ist müde, aber ich habe noch ein interessantes Buch. Das ist so spannend, dass ich einfach nicht aufhören kann zu lesen und noch um halb zwölf am Tisch sitze, während Peter schon schläft. Das Auto vibriert ganz leicht, so, als ob der Kater darauf herumturnt. Aber der liegt mit Peter im Bett, und beide haben sich nicht bewegt. Das kommt mir spanisch vor, also wecke ich Peter lieber. Wir machen das Licht aus, gucken hinter den Gardinen hervor aus allen Fenstern und lauschen lange Zeit. Die Umgebung wird vom hellen Vollmond recht gut beleuchtet; draußen ist keiner. Na, dann war wohl das Buch so aufregend, dass ich mich selbst bewegt und das gar nicht gemerkt habe. Peter schläft weiter, ich lese noch.
Plötzlich kriecht mir eine Gänsehaut über den Rücken: der Türdrücker bewegt sich nach unten! Zum Glück ist die Tür verriegelt. Entweder sind die sehr dumm oder sehr stark… ich habe fürchterliche Angst, schleiche mit weichen Knien zum Bett und wecke Peter, der zu Karl herüberruft: “He, Karl, aufwachen, wir haben Besuch!” Die beiden Männer suchen – in der einen Hand die Taschenlampe, in der anderen die Machete – die ganze Umgebung ab, aber es ist niemand da.
Da ich nun hellwach bin, setze ich mich wieder an den Tisch und schiebe Wache. Allerdings tut sich wirklich nichts mehr, und um halb drei fallen mir einfach die Augen zu. Also gehe ich auch ins Bett. Bei jedem Geräusch schrecken wir hoch. Auf seinem morgendlichen Rundgang entdeckt Peter, dass mein Fell-Sitzbezug aus der Fahrerkabine gestohlen wurde. Die Diebe müssen geschlichen sein wie die Katzen, denn außer dem leichten Vibrieren des MAN hat keiner von uns etwas gemerkt oder gehört.
Sieben Stunden fahren wir heute und schaffen 130 km. Die Piste ist so verheerend, dass unsere Aufbaubefestigung wieder reißt, die Peter in Kribi so mühevoll geschweißt hatte. Die Einheimischen sind überhaupt nicht mehr freundlich; in den Dörfern werden wir beschimpft, im Befehlston wird gerufen: “Donnez-moi un Cadeau!” Geben Sie mir ein Geschenk! “Donnez-moi un bic! Donnez-moi un cahier! Tourrrist! Eh! Tourrrist! Donnez-moi! Tourrist! Eh!” Übelste Sorte.
Nach einiger Zeit gucken wir sie einfach nicht mehr an und bemühen uns, das Gekreische der Kinder zu ignorieren. Die Dörfer sind endlos lang; über 20 Kilometer reihen sich die Hütten aneinander. Zwanzig Kilometer: “Touristiiiiiii”
Abends treffen wir in einer etwas größeren Stadt ein: Gemena. Vor dem Ort bestand keine Möglichkeit, ungestört zu übernachten. In Gemena fragen wir nun bei einer Missionsstation, ob wir uns dort hinstellen dürfen. Die nette Oberin weist uns den Platz vor dem Schulhaus zu und gibt dem Nachtwächter Auftrag, mit zu uns herüberzusehen.
Ich erzähle ihr, was uns in der letzten Nacht passiert ist. Sie ist nicht verwundert; es ist bekannt, dass der Stamm, der zwischen Zongo und Gemena lebt, Weißen nicht freundlich gesonnen ist. Hier hat es häufig unschöne Zwischenfälle gegeben, man sollte daher zwischen Zongo und Gemena gar nicht übernachten, erzählt sie uns. Um diese Erfahrung reicher gehen wir schlafen. Wenigstens haben sie dieses Mal kein Feuer unter dem MAN angezündet wie vor fünf Jahren, als wir auch irgendwo hier übernachteten. Damals konnten wir rechtzeitig wegfahren, bevor es zu warm wurde, und durften dann noch einige Kilometer durch den nächtlichen Urwald gurken.
Es wird angenehm kühl in der Nacht, nichts passiert, und wir schlafen durch wie die Murmeltiere.
Die Akula-Fähre: alles nicht so einfach
Später, wieder auf der Piste, erfahren wir von einem Lastwagenfahrer, dass die Fähre in Akula zur Zeit außer Betrieb ist. Mit dieser Fähre müssten wir über den nächsten Fluss fahren, um weiterzukommen. Wir sehen eine längere Pause auf uns zukommen, tragen es mit Fassung und nehmen einfach zwanzig Kilometer vor dem Ort eine Abzweigung auf eine schmale Nebenpiste. Den Rest des Tages und die nächste Nacht verbringen wir weitab von der Piste am Rande einer Palmen-Plantage. Mit vielen kleinen Kindern (jetzt aber wieder ganz Süße), die von wer-weiß-woher gerannt kommen, tauschen wir Bonbons und leere Dosen, die hier selten und begehrt sind, gegen Papayas. Als die Dunkelheit hereinbricht, laufen die Kinder zurück in ihr Dorf.
In der Nacht kommt Sturm auf, es gießt in Strömen. Ansonsten ist es hier aber friedlich; keine bösen Buben stören uns. Wir bewundern in aller Morgenruhe die schöne Umgebung; die ganze Plantage sieht heute früh aus wie frisch gewaschen; dicke Tropfen fallen von den Palmwedeln und die Büsche und Sträucher glänzen tiefgrün. Die hellen Strahlen der Morgensonne leuchten durch Wolken aus Wasserdampf.
Wir fahren nach Akula, um uns selbst vom Ableben der Fähre zu überzeugen. Sie liegt auf dem Trockenen, ein Mann ist dabei, unter dem Heck etwas zu schweißen, zehn andere stehen emsig herum. Wir fragen nacheinander vier Männer, wann mit der Fertigstellung zu rechnen ist, und bekommen vier Auskünfte: heute Abend, morgen früh, morgen Abend, in drei Tagen. Jeder weiß es ganz genau.
Peter und ich gehen ans Flussufer und betrachten die steile Abfahrt, die zur Fähre herunterführt. Auf dem ca. 150 Meter breiten Gewässer treiben grüne Inseln aus Wasserpflanzen in der schnellen Strömung vorbei. Meine Gedanken machen sich selbständig, wandern fünf Jahre zurück:
Da stand unser MAN schon auf der Fähre. Die beiden VW-Busse unserer Freunde, mit denen wir Zaire zusammen durchqueren, haben es noch nicht geschafft, die 20 cm hohe Kante zwischen Fähre und Anleger zu überwinden.
Volker holt vom Gepäckträger seines Busses zwei Sandleitern, die eigentlich dazu gedacht sind, unter die Reifen gelegt zu werden, wenn der Bus im weichen Sand nicht mehr vorankommt. Jetzt dienen die ca. 25 cm breiten und 80 cm langen Metallschienen als Überbrückung der Kante. Trotzdem schafft der Bus die kurze Steigung nicht, also schieben wir zu fünft.
Volker gibt zu viel Gas, ein Hinterrad dreht durch und schleudert die Sandleiter wie ein Geschoss nach hinten heraus. Sie fliegt mir gegen den linken Fuß. Der Schlag ist zwar schmerzhaft, aber trotzdem glaube ich einen Moment lang, es wäre nicht so schlimm. Bis sich die Erde und der Saum meines langen Rockes dunkelrot färben… die Sandleiter hat den Fuß zwischen dem zweiten und dritten Zeh tief gespalten, neben den weißen Sehnen quillt das Blut heraus. Nun setzt auch mit Wucht der Schmerz ein und ich knirsche mit den Zähnen, um nicht loszubrüllen.
Peter trägt mich im Laufschritt zum MAN, unsere Freunde ziehen mich die Leiter hoch, Peter schiebt von unten, legt mich aufs Bett. Ein Rest von vernünftiger Hausfrau in mir will die Sauerei nicht in der Bettwäsche haben, also halte ich den Fuß über den Rand und sehe nur noch rot. In fieberhafter Eile reißt Peter den Inhalt der Medikamententasche auseinander und sucht nach den Valoron-Tropfen, die wir für den Notfall dabeihaben. Vor Schreck und Schmerzen klappere ich mit den Zähnen, obwohl ich sie fest zusammenbeiße. Endlich hat er dreißig Tropfen in etwas Wasser getan, ich trinke das Gebräu. Sofort wird mir angenehm schwindlig, ich schwebe auf einer Wolke und falle wieder zurück aufs Bett. Durch die Wolke höre ich die beruhigenden Kommentare unserer Freunde: “Das sieht ja schrecklich aus…” “…ist bestimmt gebrochen…“ “total kaputt…”
Der Nebel lichtet sich, ich bin wieder halbwegs klar im Kopf und schimpfe, dass man kranke Leute auf keinen Fall beunruhigen solle. Steht schließlich in jeder Erste-Hilfe-Fibel! So, nun muss wohl etwas getan werden. Ich bitte Peter, mir eine Schüssel Wasser mit Kaliumpermanganat, einem Desinfektionsmittel, anzurühren, und säubere meinen Fuß damit. Der Verband, den ich mir dann wickle, ist sofort durchgeblutet, also lege ich einen Druckverband darüber, der hoffentlich einige Zeit halten wird. Die Tropfen wirken gut, der Schmerz pocht nur noch im Hintergrund. So kann ich es aushalten, außerdem ist mir jetzt sowieso alles egal. Diese Gleichgültigkeit ist eine angenehme Nebenwirkung des starken Betäubungsmittels.
Inzwischen stehen auch die VW-Busse neben dem MAN auf der Fähre, wir überqueren den großen Fluss. Die Auffahrt ist noch wesentlich schwieriger zu befahren als die Abfahrt am anderen Ufer, die Jungs müssen sich sehr plagen. Ich liege hinten auf dem Bett und bekomme nichts mit; bin zeitweise nicht vollständig anwesend. Während der Fahrt in den nächsten Ort, die sechs Stunden dauert, ist entweder Birgit oder Martina bei mir. Die beiden lösen sich ab, um mein Bein festzuhalten, damit es auf der unglaublich holperigen Piste nicht unkontrolliert hin und her schlägt. Trotz Peters äußerst vorsichtiger Fahrweise halten wir uns manchmal aneinander fest. Dann sind die 60 Kilometer überwunden.
Ein Belgier kommt unserem kleinen Konvoi entgegengefahren, wird sofort gestoppt und nach einem Arzt gefragt. Ja, im Ort gibt es sogar eine kleine Klinik mit einem spanischen Arzt. Der Belgier fährt vorweg und zeigt sie uns.
Peter und Bernhard tragen mich in das Sprechzimmer des Arztes, Martina kommt zum Übersetzen mit, denn sie spricht viel besser Französisch als ich. Birgit kommt aus Mitleid mit; Volker bleibt draußen und bewacht die Autos. Der Arzt wickelt den Verband ab und drückt an meinem Fuß herum. Ich werde fast wahnsinnig vor Schmerzen und schreie ihn an, er solle sofort damit aufhören!! Er nimmt es nicht persönlich und geht mit uns in einen kleinen Raum, in dem ein vorsintflutlicher Durchleuchtungsapparat steht, scheucht eine graue Katze von der Untersuchungsliege und sieht sich meinen Fuß an. Auf dem Bildschirm sehen wir, dass die Knochen im Fuß heil sind. Das ist schon eine Beruhigung! Im Raum stinkt es nach Katzenhäufchen.
Während der Operationsraum vorbereitet wird, müssen wir im Flur warten. Die Wirkung des Schmerzmittels hört langsam auf, ich habe Angst vor dem Bevorstehenden und werde ohnmächtig. Der Arzt holt mich mit kräftigen Ohrfeigen wieder zurück. Das erste, was ich sehe, als ich die Augen wieder aufschlage, ist Birgits hell empörtes Gesicht. Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt und ist stocksauer mit dem Arzt, der mich so grob behandelt.
Der OP-Raum ist fertig hergerichtet. Ich setze mich auf einen Tisch, kralle mich fest in Peters Hand und sehe gespannt zu, wie der Arzt – jetzt sehr vorsichtig – die Wunde betäubt und mit zwei Unterfäden und vierzehn weiteren Fäden vernäht.
Mittendrin gibt es einen dumpfen Schlag. Wir gucken zur Seite: Martina, die neben mir stand, ist umgekippt. Birgit, die im Flur wartet, bekommt einen Riesenschreck, als die Türen auffliegen, zwei Sanitäter herausrennen und mit einer Tragbahre wieder hineinlaufen. Sie kommt hinterher, weil sie denkt, dass ich schon wieder… “Weg, weg“, rufen wir ihr zu, “komm bloß nicht näher, sonst liegst du auch noch lang!” Und die stöhnende Martina wird herausgetragen.
Irgendwie müssen wir jetzt alle lachen über uns empfindliche Frauenspersonen. In gelöster Atmosphäre näht der Arzt weiter, verpasst mir noch einen Verband – so, fertig! Peter schüttelt seine Hand aus und beguckt sich die tiefen Abdrücke, die meine Fingernägel hinterlassen haben. Er und Bernhard tragen mich zurück in den MAN, Birgit und Martina, letztere noch etwas wacklig, kommen mit.
Die Fäden habe ich mir zehn Tage später selbst gezogen, und kaum dass fünf Wochen vergangen waren, konnte ich wieder richtig gut laufen.
“Ulla“, sagt Peter zum zweiten Mal, “wo bist du denn mit deinen Gedanken?” Ach ja – wir kommen nicht über den Fluss. Und jetzt? Fahren wir einfach wieder zurück in die Palmenplantage und warten da, bis die Fähre repariert ist. Denn eine Umgehung für diesen Weg gibt es nicht; wir müssten einen großen Bogen fahren, der mit Sicherheit einige Wochen in Anspruch nehmen würde. Ob auf dem Weg dann alle Fähren in Ordnung sind, weiß nur der liebe Gott. Und der sagt es nicht.
Schwester Bosko und ihre Mission
Karl hat hohes Fieber und starke Kopfschmerzen bekommen. Wir bieten ihm an, sich hinten im MAN hinzulegen, was er auch gern tut. Im kleinen Toyota müsste erst mühsam das Dach hochgekurbelt werden, welches als Schlafkabine dient. Belgische Straßenbauer, die gerade hier vorbeikommen, geben uns den Tipp, mit Karl zur nicht allzu weit entfernten Mission von Gwaka zu fahren und dort nach Schwester Bosko zu fragen.
Die Mission gehört zu einer riesigen Palmen- und Kautschukplantage und wirkt wie eine Oase im Urwald mit ihren weitläufig angelegten Rasenflächen und den schönen blühenden Büschen und Bäumen. Oberschwester Bosko, eine liebe, alte Belgierin, empfängt uns mit offenen Armen. Sie lässt sich kurz die Lage schildern, steigt dann zu Karl in den MAN, vermutet Malaria und weist ihn in ein Krankenzimmer ein. Wir dürfen mit dem MAN vor dem Haus übernachten, in dem Karl liegt.
Schwester Bosko lässt sofort einen Arzt holen. Unterdessen bringt eine andere Schwester eine schauderhaft große Spritze, die Karl in den Allerwertesten bekommt. Noch eine zweite Spritze – diese jedoch falsch angesetzt, und Karl windet sich in einem schweren Krampf. Er schreit und würgt vor Schmerzen; ich renne panisch um ihn herum, möchte helfen, weiß aber nicht wie. Simone als Krankenschwester kennt die richtigen Hilfsgriffe, so dass der Krampf nach kurzer Zeit vorbei ist. Und ich hab schon wieder weiche Knie vor Schreck. Der Arzt trifft ein und ordnet Blutentnahme an, um zu sehen, ob Karl wirklich Malaria hat. Die Schwester von eben naht mit der Spritze in der Hand, und Karl verdreht die Augen.
Nach einiger Zeit ist er mit Medikamenten bestens versorgt. Wir bringen Simone, die bei ihm im Zimmer schlafen kann, noch etwas zu essen und ziehen uns dann zurück. Der Nachtwächter spaziert um Haus und Autos, was uns sehr beruhigt. Ein Gewitter entlädt sich; die Regenzeit beginnt unaufhaltsam.
Wir verbringen ein paar Tage hier, denn obwohl inzwischen festgestellt wurde, dass Karl keine Malaria hat, weiß doch niemand, was er wirklich hat. Man muss sich also mit der Verabreichung fiebersenkender Mittel und Antibiotika begnügen, die glücklicherweise so langsam anschlagen.
Peter und ich sitzen morgens immer auf der großen Terrasse des Hauses, in dem Karl und Simone untergebracht sind, und frühstücken in aller Ruhe. So ein Frühstück in Afrika besteht meistens aus Knäcke- oder Dosenbrot aus unseren Vorräten, hin und wieder auch aus frischem Weißbrot, wenn wir Glück hatten und welches kaufen konnten. An den Folgetagen wird das Brot immer trockener, aber wir freuen uns, dass wir überhaupt welches haben. Butter ist Mangelware, die gibt es nur alle paar Wochen bzw. Monate. Marmelade oder Honig tun es auch, oder mal ein Dosencamenbert, oder eine Dose Corned Beef. Seit Kamerun haben wir auch immer viel frisches Obst. Unsere Kaffee- und Teevorräte sind ausreichend, also starten wir immer gut in den Tag. Trotzdem kommt es manchmal vor, dass wir verträumt an frischen Räucherschinken, Krabbensalat oder guten Käse denken.
Es ist noch angenehm warm, richtig heiß wird es erst in den späten Vormittagsstunden. Am blauen Himmel ziehen weiße Wölkchen vorbei, Vögel singen, Bussarde schrauben sich ohne einen Flügelschlag hoch in die Luft. Wohin wir auch blicken, überall stehen blühende Bäume. Die ganze Missionsstation strahlt Ruhe und Frieden aus: kein lautes Wort, keine Hektik – einfach wunderschön.
Am Vormittag besuchen wir Schwester Bosko im Hospital; sie führt uns herum und zeigt voller Stolz, was sie in den dreißig Jahren, die sie schon hier ist, alles aufgebaut hat. In einem großen Saal sind außer einem Mann mit Hirnhautentzündung, der sich bewusstlos und laut stöhnend herumwälzt, keine allzu schwer Kranken. Schwester Bosko bleibt neben ihm stehen, blickt mitleidig auf ihn herab, sieht uns dann verzweifelt an: “Warum kommen sie bloß immer erst, wenn es zu spät ist?!”
Die Patienten liegen auf einfachen Eisenbetten mit dünnen Matratzen, oft ist die halbe Familie am Bett versammelt. Feste Besuchszeiten gibt es hier nicht; die Kranken müssen von den Angehörigen beköstigt werden, denn so viel Geld, um alle zu verpflegen, besitzt die Mission nicht.
Eine hochschwangere Frau hat ein kleines Kind auf dem Arm, das nur noch aus Haut und Knochen besteht. “Was sollen wir tun“, sagt Schwester Bosko bedauernd zu uns und streicht dem Kind mitfühlend über die Wange, “wenn die Mütter zu früh wieder schwanger werden, haben sie keine Milch mehr für ihre Kleinkinder. Die bekommen dann irgendwelche ausgegrabenen Wurzeln und sterben an Unterernährung. Bis zum zweiten Lebensjahr sterben 50 % aller Kinder. Da können wir auch nicht helfen, leider!”
Der Tod wird hier viel eher akzeptiert als bei uns. Allerdings gibt es auch nicht die Möglichkeit, um ein Leben so zu kämpfen wie in einer deutschen Klinik. Schwester Bosko hat ihr Handeln im Laufe der Jahrzehnte notgedrungen den Umständen angepasst. Der Mann mit der Hirnhautentzündung, das kleine Kind – sie werden sterben, das ist nicht zu ändern. Aber so viele Patienten hat sie schon gerettet und kann es auch zukünftig tun!
Sie geht von einem Kranken zum anderen, spricht mit jedem ein paar freundliche Worte, hat für jeden ein Lächeln, einen Trost. Sie ist sehr warmherzig und mitfühlend, ohne den Blick für die Realitäten zu verlieren, und erteilt uns damit gleich eine Lehrstunde für unser weiteres Leben.
Mehr demnächst auf Kap Express: Der Auszug 10 „Ostwärts durch Zaire“
Peter und Ulla
Heute leben wir (KFZ-Meister i.R. und Heilpraktikerin) in einem Dorf in der Nähe von Mölln, fahren immer noch gern nach Afrika und sind ansonsten in einem Wohnmobil nach unserem Geschmack unterwegs.
Lesen sie die ganze Story: Immer wieder Afrika, Autorin: Ursula Wulf, ISBN: 978 383 910 4750