30. Oktober 1985 – jetzt wird es ernst. – Peter und Ulla Wulf starten mit ihrem alten Bundeswehr-MAN, einem zum Wohnmobil ausgebauten 13 Tonnen schweren Lastwagen, im Jahre 1985 in Hamburg. Ihr Ziel ist das Kap der Guten Hoffnung. Ihr Begleiter: der Kater Niger, schnurrig, mutig und verfressen.
Ursula Wulf – Unser letzter Tag im zivilisierten Leben bricht an. Wir sitzen in unserer Mietwohnung auf dem Teppich im Wohnzimmer und frühstücken. Der Abschied fällt uns nicht schwer, denn die Wohnung ist leer bis auf die letzten Kleinigkeiten und ca. 20 Plastiktüten, die die vorletzten Kleinigkeiten enthalten. Große helle Flecken an den Tapeten gähnen uns an. Die Wohnung haben wir gekündigt und Peters Schwester freut sich schon, dass sie mit ihrer Familie hier einziehen kann.
Kater Niger liegt natürlich schon im MAN, nachdem er gestern noch den Schreck seines Lebens bekommen hat: Da unsere Wohnung im Erdgeschoss liegt, hat er sich angewöhnt, über den Balkon rauszugehen und seine Erkundungsgänge zu machen. Auf seinem Weg zurück durchs Wohnzimmer stand hinter der Fensterecke nun seit fünf Jahren eine große schwarze Säule mit einem Blumentopf drauf. Nichts ahnend haben wir die Säule in den Keller gebracht, ohne Niger zu fragen. Der Kater betritt also das Zimmer wie immer über den Balkon – und die Säule ist weg! In derselben Zehntelsekunde steht sein Fell komplett aufrecht und er macht einen Riesensatz in die Höhe und zur Seite. Landet mit einem Flaschenbürstenschwanz, guckt empört in unsere lachenden Gesichter und verzieht sich schwer beleidigt.
Das bunte Programm für den heutigen Tag (Sparkasse, Optiker, Apotheke, Amtstierarzt, Supermarkt) erreicht am Mittag seinen vorläufigen Höhepunkt: der MAN wird gewogen. Auf dem Zettel der Autowaage sind 12,8 Tonnen zu lesen. 13 Tonnen darf er haben – aber leider ist das Gewicht nicht zufriedenstellend verteilt; die Hinterachse ist viel zu schwer.
Peter will sofort und auf der Stelle die beiden hinten auf der Pritsche befestigten Reservereifen abmontieren. In diesen Reifen befinden sich jedoch Unmengen von mir eigenhändig in Folie eingeschweißte Kleidungsstücke, die in Afrika teils getauscht, teils verschenkt werden sollen. Ich gucke wie ein Bullenbeißer mit Zahnweh. Die Reifen bleiben dran. Na gut, meint Peter, wir können ja mal abwarten. Eigentlich sollte der MAN das vertragen.
Zu Hause angekommen, soll der Kater, müde vom anstrengenden Tierarztbesuch, mit in die Wohnung, aber er ist aus dem MAN nicht herauszubekommen. Die Wohnung ist doch leer, und wenn man ihn nachher vergisst… da bleibt er lieber hier im Bett.
Zum fünften Mal räumen wir “den jetzt aber wirklich letzten Rest” ins Auto. Für die Verabschiedung von meiner Mutter, meiner Tante und Peters Eltern bleibt nur noch je eine Stunde. Gar nicht schlecht, dann muss ich mich nicht zu lange beherrschen und freundlich lächeln. Mir ist nämlich doch recht „abschiedsmäßig“ zumute!
In unserem griechischen Lieblingslokal treffen wir abends unsere Freunde, eine große, zumeist fröhliche Runde. Nur meine Freundinnen Susi und Renate wirken etwas mitgenommen. Susis Augen schwimmen schon sehr verdächtig. “Reiß dich bloß zusammen”, flüstere ich, “sonst geht es bei mir auch los!” Da reißt sie sich.
Ich bin so aufgeregt, dass ich nur die Hälfte esse und noch nicht mal einen Ouzo herunterbringe. Tee ist ja auch viel gesünder. Jeder hat uns etwas Schönes mitgebracht: Lakritze für Peter, Schokolade für mich, Dosenfutter für Niger, einen Sprachführer, Edelkonserven von Lacroix. Tini, die Wirtin, schenkt uns zum Abschied eine Flasche Wein.
Große Umarmung draußen auf dem Parkplatz; 16 liebe Freunde winken uns nach. Wir werden sie ein Jahr lang nicht mehr sehen. Während wir in Richtung Autobahn fahren, sagt Peter liebevoll: “Na, du hast ja gar nicht geweint?” Woraufhin ich wie ein Schlosshund zu heulen anfange. Die Tränen tun mir gut, anschließend sind die Hummeln aus meinem Magen verschwunden.
Wir sind so kaputt, dass wir nur ca. 20 km weit fahren und in Hamburg-Stillhorn auf dem Autobahnrastplatz übernachten. Hauptsache, wir sind schon mal losgefahren.
Endlich unterwegs
Die Fahrt durch Frankreich geht gemütlich vonstatten, denn der MAN hat eine Spitzengeschwindigkeit von 70 km/h. Da er dann allerdings mindestens 30 Liter Diesel auf 100 km bräuchte, fährt Peter nur 60 km/h. Alle diejenigen, die bei der Nennung von immer noch 24 Litern auf 100 km entsetzt zusammenzucken, mögen sich die erstaunliche Reisekosten-Gegenüberstellung im Malawi-Kapitel ansehen.
Ein leichter Dunst liegt in der Luft und lässt die Hügelketten, die sich bis zum Horizont erstrecken, immer heller erscheinen, bis sie schließlich mit dem blassen Himmel verschmelzen. Die Blätter, die von den herbstlich bunten Chausseebäumen fallen, leuchten in den schönsten Farben; ein rotgoldener Teppich breitet sich auf der Straße aus. Die kleinen Dörfer mit den windschiefen grauen Häusern sehen aus, als wäre die Zeit hier vor 100 Jahren stehengeblieben. Das Wetter schwankt zwischen Sonne, Hagelgeprassel und dichtem Nebel, wird aber ab Südfrankreich immer besser.
Nach einigen ruhigen Fahrtagen ist das Städtchen Blanes in Spanien erreicht: ein rummelig-lauter Touristenort an der Uferpromenade und eine verträumte alte Stadt in den Straßen dahinter. Der Wächter des Parkplatzes am Hafen hat nichts dagegen, dass wir hier übernachten möchten; er nimmt trotzdem nur die normale Parkgebühr von umgerechnet DM 3,60. Wir trinken gemütlich im Auto einen Espresso und sehen zu, wie im Hafen die Boote einlaufen, die Netze am Ufer ausgebreitet werden und die alten Fischer ein Schwätzchen halten.
Ein paar Hunde streunen über den Platz. Sie profitieren vom Tourismus, denn sie sind von Natur aus freundlich und – wieder hat`s geklappt – einer bekommt von einer Gruppe junger Leute etwas zu essen. Er schlingt selig alles in sich hinein; zum Schluss gibt es noch eine große Scheibe Graubrot.
Seine Begeisterung erlischt schlagartig und wir sehen ihm seine Gedanken an: “Oh nein, das ist Brot – das mag ich überhaupt nicht! Aber die sind so nett, ich muss das wohl fressen!” Mit sehr langen Zähnen kaut er langsam an der Scheibe. Die Leute gehen weg, er lässt das Brot erleichtert fallen. Ein winziges Stückchen hat er herausgeknabbert.
Seine Gönner drehen sich noch einmal nach ihm um und sehen einen Hund, der hastig und begeistert das Brot frisst – aber nur, um es endgültig auszuspucken, als sie endlich weit genug weg sind.
Abends gehen wir in den Ort und gucken nach einem Restaurant. Die Saison ist vorbei, die Straßencafés an der Promenade sind größtenteils geschlossen. Nur im “Weißen Rössl” ist noch Betrieb. Die Speisekarte des Rössl bietet an: “Fleischspezialitäten: Bockwurst, Wiener Schnitzel, Zigeunerschnitzel” Schnell weg hier.
In den schmalen, nur schwach beleuchteten Gassen der Altstadt wird der leichte Modergeruch der Häuser vom Duft frisch gebratenen Knoblauchs überdeckt. Wir bleiben vor dem Restaurant stehen, das wir noch von früheren Reisen kennen, und bemühen uns um Entzifferung der spanischen Speisekarte. Zu unseren Füßen ertönt ein gleichmäßiges Knirschen: eine kleine magere Katze kaut angestrengt auf einem Seestern herum. Auf meine Ansprache reagiert sie nicht; sie hat gerade gar keine Zeit!
Wir betreten das Restaurant. Die Tische sind noch nicht besetzt, denn der Wirt bietet weder Sauerkraut noch Eisbein an und die Spanier, die das zu schätzen wissen, kommen erst später am Abend. Das geröstete Kaninchen mit majonaisehaltigem Knoblauch, Aioli genannt, schmeckt hervorragend. Der spanische Wein ist sogar so gut, dass Peter nachher auf dem Rückweg zum Auto über meine Gangart lacht.
Am 8. November, irgendwo zwischen unendlichen Orangenplantagen, kehrt der Sommer zurück: 30 Grad! Wir nehmen in der Fahrerkabine die seitlichen Steckfenster aus Plexiglas heraus und fahren so wesentlich luftiger. Von den Blüten der dunkelgrünen Bäume, die gleichzeitig orange leuchtende Früchte tragen, kommt ein schwerer, süßer Duft. Die Ernte ist in vollem Gang, die großen, saftigen Apfelsinen werden an der Straße preiswert angeboten.
Abends fahren wir einfach in ein tiefes, ausgetrocknetes Flussbett hinein und sind nach drei schlängeligen Windungen von der Straße aus nicht mehr zu sehen. Niger wälzt sich begeistert im Sand und pudert sich wie Ludwig der Vierzehnte (allerdings stumpfgrau). Daher wird er vor dem Zubettgehen kräftig gebeutelt und ist für ca. 15 Minuten schwer beleidigt. Dann schmust er aber doch wieder mit uns.
Am nächsten Morgen folgen wir einer Piste durch das Flussbett, um eine alte Westernstadt anzusehen, in der so mancher original amerikanische Film gedreht wurde. Vor der Stadt sitzt ein Kartenverkäufer (freundlich), neben ihm ein angeleinter Hund (freundlich-zurückhaltend), ein Hund ohne Leine (überfreundlich) und noch ein angeleinter Hund (verzweifelt-freundlich), denn er ist zu weit weg angebunden und keiner streichelt ihn.
Wir zahlen einen geringen Eintrittspreis und besichtigen die Stadt, die den halben wilden Westen in sich vereinigt: Erst kommen wir in einen mexikanischen Grenzort, dann am Viehstall vorbei zur Hauptstraße einer alten amerikanischen Stadt, mit Bank zum Überfallen, Sheriff-Büro und Hotel mit großem umlaufenden Balkon im ersten Stock zum Heruntergeschossen werden. Wir sehen uns auch die schöne Postkutsche, die Planwagen und ein paar Indianerzelte an und könnten uns John Wayne hier an jeder Ecke vorstellen.
Zurück geht es durch die Sperre am Eingang. Wir fahren noch ein Stück den Flusslauf entlang; die Ufer ragen hoch auf und sind voller Höhlen und Buchten. Es ist einfach grandios hier.
Wir genießen die schöne Landschaft, doch dann schlägt das Schicksal zu und beschert mir das große Erlebnis des heutigen Tages: eine recht vollgefressene Spinne baumelt von der Decke des Fahrerhauses. Selbstverständlich baumelt sie genau vor meiner Nase. Ich schlage sie heldenhaft mit der Landkarte zu Boden, kann sie aber anschließend nirgends entdecken. Lieber hätte ich eine ausgewachsene Kobra auf dem Schoß! Peter muss anhalten und mitsuchen. Er steigt mit nachsichtigem Kopfschütteln aus und nimmt die Gummimatte aus meinem Fußraum, um sie draußen auszuschlagen. Ich beäuge drinnen misstrauisch jeden Zentimeter – oh großer Graus! Da sitzt das grässliche Monstrum an meinem Hosenbein! Mit lautem Gekreisch springe ich so blitzartig aus dem Auto, dass ich Peter beinahe mit der Tür erschlagen hätte. Gottseidank hat er aber von Niger gelernt, wie man sehr schnell sehr weit zur Seite springt.
Und jetzt versteht er mich noch nicht mal – Männer und Frauen passen eben nicht zusammen! Ich berichte leicht hysterisch, was passiert ist, und bitte ihn um Besichtigung meiner Hose. Ich will nämlich nicht noch mal hingucken. Igitt, was könnt’ ich mich schütteln. Peter findet keine Spinne. Wahrscheinlich hat sie sich zu Tode erschrocken und ist getürmt. Während der Weiterfahrt Richtung Almeria werfe ich noch eine Zeitlang bohrende Blicke um mich herum in alle Ecken und Winkel, aber außer Peter und mir ist keiner da. Nachher kann ich schon mit Peter über so komische Leute lachen, die nach Afrika in den Dschungel wollen und sich vor Spinnen fürchten!
In Almeria, einer am Mittelmeer gelegenen Stadt, buchen wir für 350 Mark die Fährpassage nach Afrika und telefonieren vom Postamt aus mit Peters Mutter, die hocherfreut ist, uns im „gefährlichen Spanien“ noch unter den Lebenden zu wissen. Sie bestellt Grüße von der gesamten Familie – und schreibt mal! Na klar, machen wir.
Da die Fähre erst morgen ablegt, fahren wir heraus aus der Stadt. Die Straße wird zu einem schmalen Feldweg und verläuft sich schließlich zwischen niedrigen Dünen am Meer. Hier ist es so schön und ruhig, dass wir beschließen, über Nacht zu bleiben.
Die Sonne geht unter und verwandelt das Meer in flüssiges Gold. Dicht am Ufer wachsen bunte Seeanemonen; das Wasser versickert leise glucksend zwischen weißen Kieselsteinen und grünen Seeigelschalen.
Viele Fischerboote und zwei große Fähren tuckern vorbei. Peter, Niger und ich sitzen im Eingang des MAN-Aufbaus und genießen den rotgoldenen Sonnenuntergang.
Später, während Peter und Niger schon einträchtig im Bett schnarchen, sitze ich noch lange auf, schreibe Tagebuch und träume. Morgen fährt das Schiff nach Afrika. Wie kann man da schlafen?!
Mehr demnächst auf Kap Express: Der Auszug 4
“Auf zu neuen Ufern”
Peter und Ulla
Heute leben wir (KFZ-Meister i.R. und Heilpraktikerin) in einem Dorf in der Nähe von Mölln, fahren immer noch gern nach Afrika und sind ansonsten in einem Wohnmobil nach unserem Geschmack unterwegs.
Lesen sie die ganze Story: Immer wieder Afrika, Autorin: Ursula Wulf, ISBN: 978 383 910 4750